Die Veranstaltung ging schon einmal gut los: Es mussten zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden. 30 Plätze waren vorbereitet, die reichten nicht. Bei Kaffee und frischer Erdbeertorte traf sich der Glinder Diskussionstreff 60plus, um mit Martin Habersaat, dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion, 75 Jahre Grundgesetz zu feiern und den Ausgang der Europawahl und dessen Konsequenzen zu besprechen. Zwischen beiden Themen gibt es einige Zusammenhänge, wie sich an diesem Nachmittag zeigte. Am 23. Mai 1949, vor 75 Jahren, konnte der Parlamentarische Rat feststellen, dass sein exakt vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1949 vorgelegter Entwurf für ein Grundgesetz durch die Mehrheit der Landesparlamente angenommen worden war. Lediglich Bayern hatte nicht zugestimmt, weil die CSU bayerische Interessen zu wenig berücksichtigt sah. Martin Habersaat augenzwinkernd: „Da ahnten die Herren von der CSU wohl noch nichts von späteren CSU-Verkehrsministern…“
Der Landtagsabgeordnete hatte einen kleinen Vortrag über die Entstehung des Grundgesetzes und einige ausgewählte Artikel mitgebracht. Er beschrieb die besondere Lage des parlamentarischen Rates, der vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen und des zweiten Weltkrieges vor der Aufgabe stand, eine neue Verfassung zu formulieren. Dabei saßen Menschen wie Theodor Heuss und Paul Löbe an einem Tisch. Heuss, Fraktionsvorsitzender der FDP und der später Bundespräsident, war 1933 für die Deutsche Staatspartei Mitglied des Reichstags und hatte dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Der ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe aus Berlin hatte 1933 mit der SPD dagegen gestimmt und war kurz danach ins KZ Breslau verschleppt worden. Habersaat ging auch auf die vier Frauen ein, die dem parlamentarischen Rat angehören und sich mit vielen zukunftsweisenden Vorschlägen nicht durchsetzen konnten, aber immerhin mit dem entscheidenden Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.” Dieser Satz in Artikel 3 des Grundgesetzes war Elisabeth Selberts Vorschlag. Bevor er eine Mehrheit fand, mussten sie und die anderen Frauen gemeinsam mit verschiedenen Frauenorganisationen erst eine breite Öffentlichkeitskampagne starten.
Artikel 23, der seinerzeit den Beitritt der DDR zur BRD regelte, lautet heute übrigens wie folgt: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Im weiteren Verlauf des Nachmittags ging es dann um die Frage, wie vor dem Hintergrund eines erstarkenden rechten Rands dieser Anspruch erfüllt werden kann: Ein demokratisches, rechtsstaatliches und soziales Europa. Soll man eine Partei wie die AfD verbieten? Haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes diese Möglichkeit für eine Lage wie heute geschaffen? Wie sonst können wir die Demokratie sichern und weitere 75 Jahre Stabilität und Wohlstand genießen? Alle Beteiligten gingen mit viel Stoff zum Nachdenken nach Hause.