Żmigród hilft der Ukraine

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Die Kolumne „Neues aus Żmigród“ mit Berichten aus der polnischen Partnerstadt Bargteheides ist zzt. ausgesetzt. Aufgrund der aktuellen Geschehnisse kommt hier jedoch ein außerordentlicher Beitrag zur gegenwärtigen Situation in Polen und Żmigród nach dem militärischen Überfall auf die Ukraine.

5. Hilfe für die Ukraine: Aufruf des Gemeindesozialzentrums in Żmigród

Polen erlebt derzeit seine Willkommenskultur-Offenbarung. Nach Schätzungen haben in den nicht einmal zwei Wochen seit Kriegsbeginn rund 1,2 Mio. Menschen die polnisch-ukrainische Grenze unbürokratisch überquert. So viele, wie in Deutschland während der großen Flüchtlingsbewegung 2015/16 in einem ganzen Jahr ankamen! Dabei hat Polen nur rund 38 Mio. Einwohner.

Nach der kritischen Haltung gegenüber Deutschlands Aufnahmebereitschaft 2015 und den Pushbacks von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak an der polnisch-belarusischen Grenze im letzten Herbst mag dies manchen erstaunen.

6. Bürgermeister Robert Lewandowski erkundigt sich bei einer Sammelaktion von Hilfsmitteln in einer Żmigróder Schule.

Wer Polen kennt, den kann die riesige Welle der Hilfsbereitschaft nicht so sehr überraschen. Die Kommunalverwaltungen sind oft professionell und modern aufgestellt. Hinzu kommt eine recht starke und breit verwurzelte Zivilgesellschaft. Dazu gehören auch die vielen persönlichen Einzelinitiativen von einfachen Privatleuten: Menschen fahren an die Grenze, um dort selbst beschaffte Hilfsmittel auszugeben oder ukrainische Ankömmlinge im Privatwagen zu Angehörigen im Landesinneren zu bringen. Die intensive Nutzung sozialer Medien tut hier ein Übriges.

Polen und die Ukraine haben ein sehr besonderes und historisch belastetes Verhältnis. Beide Nationen drängten seit Mitte des 19. Jahrhunderts sehr stark auf nationale Unabhängigkeit und so kam es in den multiethnischen Gebieten von Galizien und Wolhynien immer wieder zu teils blutigen Konflikten, die in einer Art Bürgerkrieg am Ende des 2. Weltkriegs gipfelten. Manche Zeitzeugen können sich noch daran erinnern.

https://de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-ukrainische_Beziehungen

Im Zuge der Westverschiebung Polens und der Zwangsumsiedlungen nach dem zweiten Weltkrieg fanden viele der damals in der Region von Lemberg lebenden Polen in und um Breslau eine neue Heimat. Zahlreiche Kulturgüter wie das Rundpanoramabild der Schlacht von Racławice oder die wissenschaftliche Nationalbibliothek Ossolineum kamen aus Lemberg mit nach Breslau. Auch viele Bürger aus Żmigród und Umgebung haben ihre familiären Wurzeln in der heutigen Westukraine und durchaus schon die Heimat ihrer Vorfahren besucht.

2. Żmigróder Schülerinnen und Schüler setzen ein Zeichen der Solidarität

Seit der demokratischen Wende Anfang der 90er Jahre gab es zwischen Polen und der Ukraine intensive gegenseitige Bemühungen um ein gutes Verhältnis. Es wurde ein Nachbarschaftsvertrag geschlossen, beide Länder richteten 2012 gemeinsam die Fußball-Europameisterschaft aus. Schon seit langem hatte Polen seinen Arbeitsmarkt für Ukrainer geöffnet, die damit die Abwanderung polnischer Arbeitskräfte in Richtung Westeuropa kompensierten. Die kulturelle und sprachliche Nähe (Ukrainisch ist dem Polnischen näher als dem Russischen) erleichterte die Integration. Vorhandene familiäre und persönliche Bindungen helfen gerade jetzt bei Unterbringung und Versorgung von Kriegsflüchtlingen.

Die polnischen Behörden versuchen auf allen Ebenen überwiegend schnell und pragmatisch zu handeln. Dienstagnacht vergangener Woche ging um kurz vor 1:00 Uhr bei der niederschlesischen Regionalverwaltung in Breslau ein dringender Hilferuf aus der südöstlichen Woiwodschaft Vorkarpaten ein. Flüchtlinge würden sich stauen, man brauche dringend Entlastung. Nur 12 Stunden später setzte sich ein mit Dolmetschern und Hilfsmitteln ausgestatteter „Humanitärer Zug“ in Bewegung, der noch am Dienstagabend 420 Menschen von der Grenze abholte und sie bei seiner Fahrt bis ans östliche Neiße-Ufer unterwegs verteilte. Die meisten stiegen in Breslau aus.

In Żmigród wurden bislang 140 geflüchtete Ukrainer registriert. Tatsächlich schätzt man, dass mittlerweile schon rund 200 Menschen in der 15.000-Einwohner-Gemeinde Schutz gefunden haben. Unter dem Motto „Żmigród hilft der Ukraine“ hat die Stadt die spontanen Initiativen der ersten Tage zusammengeführt. Insbesondere gingen viele Sachspenden wie Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel und Medikamente ein. Der Verein „Pozytywka“ hat ein Spendenkonto eingerichtet, auf dem sich auch schon ein nennenswerter Betrag angesammelt hat. Davon soll zunächst noch ein Teil für spätere Not- und Härtefälle zurückbehalten werden.

Das Gemeindesozialzentrum, das zunächst mit der Koordination all dieser Aktionen betraut war, erwies sich schnell als überlastet, sodass nun Verantwortlichkeitsbereiche auf Koordinatoren verteilt wurden. Bei der Organisation der zahlreichen Aufgaben fährt man zwangsläufig auf Sicht, weil die Strukturen den sich dynamisch ändernden Verhältnissen immer wieder angepasst werden müssen.

Derzeit geht man davon aus, dass die künftigen Flüchtlinge (im Gegensatz zu den ersten Ankömmlingen) nicht mehr so viele eigene private Anlaufstellen in Polen haben werden. Die Menschen, die jetzt kommen, werden von den Kriegsereignissen noch sehr viel härter betroffen sein und sehr viel weniger selbst mitbringen.

Der niederschlesische Vertreter der Warschauer Zentralregierung hat die Gemeinden daher angewiesen, jetzt schon provisorische Sammelunterkünfte einzurichten. Für Żmigród bedeutet dies, dass kurzfristig 80 solcher Plätze vorzubereiten sind (perspektivisch soll Żmigród sogar 230 Plätze zur Verfügung stellen). Dazu werden nun in mehreren Dorfgemeinschaftshäusern Feldbetten aufgestellt. Dies ist eine logistische Herausforderung, denn allein dadurch, dass mehr oder weniger alle Gemeinden vor derselben Aufgabe stehen, könnte z. B. der Bedarf an Feld- bzw. Campingbetten enorm steigen.

Neben all diesen organisatorischen Fragen befasst man sich in Żmigród auch mit den psychosozialen Bedürfnissen von Flüchtlingen und Helfern. Auf einem Merkblatt für private Quartiergeber werden diese für die besondere Situation und die Perspektive der ankommenden Ukrainer sensibilisiert und erhalten zumindest einige professionelle Hinweise für den Umgang mit den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern. Ein weiteres positives Signal ist der Umstand, dass bereits erste ukrainische Kinder und Jugendliche Żmigróder Schulen besuchen und damit wenigstens etwas Struktur in ihren neuen Alltag einziehen kann.

Text: Christof Leidner

Bildmaterial: Stadtverwaltung Żmigród

2 Kommentare

  1. Lieber Christof, vielen Dank für den ausführlichen Bericht!
    Es ist wirklich beachtlich, wie schnell und unbürokratisch geholfen wird. Eine große Herausforderung in schwierigen Zeiten.

  2. Vielen Dank für die anerkennenden Worte. In der Partnergemeinde, die bislang vergleichsweise wenig Erfahrungen mit Flüchtlingen hat, wird zzt. fast übermenschliches geleistet. Persönlich wünsche und hoffe ich, dass die Bargteheider noch Żmigród konkret unterstützen könnten. Eine Städtepartnerschaft sollte ja nicht nur eine Schönwetterveranstaltung sein, sondern sich gerade in schwierigen Zeiten beweisen. Dies bedarf allerdings der genauen Vorabstimmung und dann ggf. zügigen und bedarfsgerechten Handelns, weil sonst eine heute initiierte Hilfe aufgrund der beschriebenen Dynamik sich bei ihrem Eintreffen schon als obsolet erweisen könnte.

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